Das Horn der Chylath
Einer der unglaublichsten „Crafting-Unfälle“, von denen jemals berichtet wurde, waren gewiss die unglückseligen Ereignisse, die sich entwickelten, als Kyanth Orgg, vielversprechender Sprössling eines oft gerühmten Anführers des damals mächtigsten Clans der Ebenen von Sykes, sich auf die Suche nach dem Horn der Chylath machte. Nun muss man dazu wissen, dass sie Chylath von den Kriegerclans des Nordens irrtümlich für ein mächtiges, frühes Barbarenvolk gehalten wurden, das man als seine direkten Vorfahren betrachtete. Schuld an dem, was nun folgen sollte, war letztlich ein fataler Übersetzungsfehler, für den man – mit dem Wissen von heute – vermutlich einen jungen Skribar (also einen auszubildenden Chronisten) aus der Großen Bibliothek in Eloysion verantwortlich machen muss. Allerdings – und dies zu seiner Entschuldigung – haben viele der zahlreichen Dialekte des Nordens ihre Tücken und noch heute ist es so, dass verschiedene Stämme zwar ein für den Nicht-Eingeweihten identisches Idiom sprechen, in dem völlig gleich klingende Worte vollkommen gegensätzliche Bedeutungen haben können. Oftmals wird die Vielzahl der Clankriege im Norden genau auf diesen Umstand zurückgeführt. Aber wir wollen uns nicht zu sehr in der wechselhaften Geschichte der Nördlichen Territorien verfangen und kehren stattdessen zu Kyanth Orgg und seinem traurigen Schicksal zurück.
Die Herrschaft von Kyanths Vater neigte sich zu dieser Zeit bereits dem Ende entgegen. Alt, krank und – wie viele behaupten – geistig in einem Zustand ständiger Verwirrtheit, klammerte er sich dennoch an die Macht, wie ein Ertrinkender an einen treibenden Baumstamm. Kyanth, in dem das alte Schamanenblut seiner Familienlinie so stark floss, wie es bei keinem seiner Vorfahren seit vielen Generationen der Fall gewesen war, stand – gemäß der Stammesgesetze – nur eine einzige Möglichkeit offen, seinen Vater vorzeitig als neuen Kriegsfürsten abzulösen: Er musste dem Großen Rat des Clans ein göttliches Wunder präsentieren. Gelang ihm dies, hatte man es als Zeichen von Aureths Willen anzuerkennen und die Mächtigen des Clans hätten ihm daraufhin zu huldigen und zum neuen Anführer zu erheben gehabt. Ja, Ihr habt Recht, wenn Ihr jetzt denken solltet, das in diesen Zeiten doch einiges einfacher was als heute.
Doch welches Wunder käme hier in Frage? Schließlich erinnerte sich Kyanth an die Geschichte des Horns der Chylath, in der es um ein Artefakt ging, das so mächtig gewesen sein soll, dass es seinem Träger schier unvorstellbare Kräfte im Kampf verlieh. Für Kyanth stand schnell fest: Er musste der Geschichte dieses Artefaktes nachgehen und dafür sorgen, dass das Horn von Chylath in seinen Besitz gelangte. Denn: Würde er das legendäre Horn im Kreise des Großen Rats erschallen lassen, hätten die Mächtigen und Edlen ihn als ihren neuen Kriegsfürsten anzuerkennen. So führte ihn sein Weg in die Große Bibliothek von Eloysion, wo er schließlich auf jenen schon erwähnten Skribar-Adepten stieß, der sofort Feuer und Flamme für Kyanths Ansinnen war. Es gelang ihm, eine alte Schrift ausfindig zu machen, die in der Hochsprache der Garmathi verfasst war, einem uralten Idiom, das einst die frühen Bewohner der westlichen Flusslande verwendeten. Deren Gelehrte hatten viele Erkenntnisse über die damaligen Bewohner und Kreaturen der Welt gesammelt und dabei auch die Territorien des Nordens erforscht und vermessen. Eines der zahlreichen Dokumente widmete sich der Geschichte des Horns der Chylath und zu Kyanths unermesslichem Glück enthielt es offenbar eine detaillierte Anleitung, wie dieses legendäre Artefakt zu beschwören war. Sein junger Skribar, dem er ein Fass besten alanthyschen Weines und zehn schwere Golddukaten für dessen Mühen versprach, arbeitete zwei Tage und zwei Nächte an der Übersetzung des alten Textes.
Dabei unterlief ihm jedoch ein Fehler, der sich als folgenschwer erweisen sollte. Etwas mehr Erfahrung, etwas weniger Wein und dafür ein wenig mehr Schlaf und es wäre ihm vielleicht rechtzeitig aufgegangen, dass es sich bei den Chylath eben nicht um ein mächtiges Kriegervolk gehandelt hatte, sondern um eine seltsame Spezies, die noch in den Tagen des Schöpfers die Welt des Nordens besiedelte. Aus unserer heutigen Sicht würden wir diese Wesen als halbintelligente Nashörner beschreiben, die sich durch ihre gewaltigen Körpermaße und ihre unglaublichen Körperkräfte auszeichneten. Dabei hätte man sie jedoch eher als Stirnhörner bezeichnen müssen, denn die männlichen Chylath verfügten eben an dieser Stelle des Körpers über ein einzelnes Horn, das sie als tödliche Waffe einsetzen konnten. Auch wenn die Chylath nicht über eine ausgeprägte Intelligenz verfügten – damit ist jene Art von Intelligenz gemeint, wie wir sie heute verstehen – so war in ihnen ein Rest von Aureths Macht vorhanden – so wie in allen Kreaturen des Anfangs. Die Gelehrten sind sich heute sicher, dass Aureth sie mit dem „Lied des Bodens“ verband, was sie dazu in die Lage versetzte, ihre Hörner, im Falle der Gefahr, auf das doppelte ihrer Größe anschwellen und wachsen zu lassen.
Von all dem sollte der unglückselige Kyanth erst viel später erfahren. Kaum hielt er das ersehnte Dokument in Händen, eilte er, getragen vom Sturm, den sein eigener Eifer entfachte, zurück in seine Heimat, berief dort stehenden Fußes den Großen Rat ein und schließlich stimmte er das alte Lied des Chylath an, damit vor aller Augen das mächtige Horn sich manifestieren möge. Nun, was sich manifestierte, war dann etwas vollkommen anderes und da der Große Rat nur männliche Mitglieder umfasste, geriet jeder der Anwesenden sofort in den Bann des Liedes. Wir kennen die Macht der alten Lieder heute gut und das „Lied des Bodens“ gehörte zu den mächtigsten von ihnen. Kein lebendes Wesen vermag es, sich Klang und Wirkung zu entziehen, ausgenommen ist davon nur derjenige, der es singt. Binnen kürzester Zeit wanden sich die Mitglieder des Rates unter Angst- und Schmerzensschreien im Staub zu Kyanths Füßen und groß war sein Schrecken, als er erblicken musste, wie auf der Stirn der Männer etwas zu wachsen begann. Es waren die Hörner der Chylath, fest verwachsen mit den Schädeln seiner Zuhörer und als die Hörner ihre volle Größe erreicht hatten, maßen sie eine ganze cambrische Elle, was der Länge des Armes eines erwachsenen Mannes entspricht.
Diejenigen, die von diesen Ereignissen erzählen, berichten von einem unglaublichen Tumult, der daraufhin im Lager des Clans ausbrach. Während verschiedene der Hornträger wider Willen sich unter Schmerzen und Wut sogleich auf Kyanth stürzen wollten, jedoch vom ungewohnten Gewicht ihres neuen Kopfbewuchses augenblicklich zu Boden gezerrt wurden, versuchten andere, die sich auf vier Gliedmaßen noch unsicher und schwankend fortbewegten, ihren vermeintlichen Peiniger mit den tödlichen Hörnern zu rammen. Dabei kamen sie sich oft gegenseitig dermaßen unglücklich in die Quere, dass nicht wenige der Ratsmitglieder nur ein kurzes Dasein als Hornträger zu fristen hatten. Kyanth entkam schließlich mit knapper Not aus seinem Heimatdorf und wurde nie wieder gesehen. Einige Tage später wurde der Adept, der ihm bei der Übersetzung „behilflich“ gewesen war, tot aufgefunden. Ertrunken, mit dem Kopf nach unten, in einem Fass besten alanthyschen Weines und mit einer schweren Golddukate, die so zwischen seinen Augen steckte, als habe sie jemand mit roher Gewalt in seinen Schädel getrieben. Es heißt, dass man, nachdem man den unbrauchbar gewordenen Skribar aus dem Fass entfernt hatte, den durchaus noch brauchbaren und überaus köstlichen Wein an die Gelehrten der Bibliothek ausschenkte, um so des unglücklich zu Tode gekommenen Lehrlings zu gedenken.
Ihr würdet jetzt vermutlich gerne wissen, was aus den horntragenden Mitgliedern des Großen Rates wurde, nicht wahr? Nun, das ist eine ganz andere Geschichte und Ihr dürft darauf hoffen, dass Ihr sie von denjenigen erfahren werdet, die damals dabei waren. Sofern sie denn mit Euch reden werden, denn sie haben sich doch sehr verändert – nicht nur, was ihre körperlichen Merkmale angeht. Denkt derweil bitte immer an das eine: Prüft stets sorgfältig Eure Quellen, wenn ihr die weiten Lande von Aetherra durchstreift. An Geheimnissen wird es hier nie mangeln und man wird Euch Geschichten erzählen, die Euch immer wieder in pures Erstaunen versetzen werden. Aber…und das als gutgemeinter Rat…wenn Ihr überleben wollt, dann ist das Misstrauen einer Eurer verlässlichsten Reisebegleiter.